Vertrag von Trianon 1920: Ungarische Traumata (4)
Neulich stand ich im Budapester Stadtzentrum in einer U-Bahn-Station und bedauerte mal wieder, meine Kamera nicht dabei zu haben: Ich sah ein recht junges Mädchen, Gothic-mäßig schwarz gekleidet und geschminkt. Auf der entblößten Schulter waren die tätöwierten Umrisse eines Landes erkennbar, dessen Form entfernt an den Umriss der Schweiz erinnerte. Dabei handelte es sich aber um den Umriss Ungarns bis 1920, vor “Trianon”.
Jeder Ungarnreisende wird diesen Umriss mehrmals täglich während seines Aufenthalts erblicken: Auf Postern, als Autoaufkleber oder als Anstecker. Die Silhouette des Vor-Trianon-Ungarns ist im Gesicht Ungarns allgegenwärtig, und das offenbar recht unabhängig von der betroffenen Altersgruppe. Das Mädchen in der U-Bahn war noch nicht einmal 20 Jahre alt.
Was also ist Trianon? – Eigentlich zunächst einmal zwei unscheinbare Schlösschen im Park von Versailles bei Paris – Petit und Grand Trianon. Dort wurde 1920 der Friedensvertrag der Siegermächte des 1. Weltkrieges – vor allem Frankreich, Großbritannien und die USA – mit Ungarn geschlossen. Das Königreich Ungarn verlor dabei zwei Drittel seiner Fläche und die Hälfte seiner Bevölkerung, wie jedes ungarische Schulkind im Schlaf berichten kann. Die Ungarn hatten bei diesen Friedensverhandlungen kein Mitsprachrecht – ganz ähnlich zu der Lage der Deutschen, die die Bedingungen des Versailler Vertrags ja auch nicht maßgeblich beeinflussen konnten. Im Gegensatz zu den den Deutschen auferlegten Bedingungen waren die Regelungen für Ungarn aber ungleich härter. Bis 1920 reichte Ungarn von der Adria im Westen bis in die heutige Ukraine im Osten, von der heutigen polnisch-slowakischen Grenze im Norden bis zur Stadtgrenze von Belgrad im Süden. Das ganze Karpatenbecken war zumindest nominell in ungarischer Hand. Halb Kroatien, ein Großteil von Rumänien, Teile der heutigen Ukraine, die gesamte Slowakei und sogar ein Teil des heute österreichischen Burgenlandes gingen für Ungarn verloren.
Allerdings ging der Neuzuschnitt der Grenzen auf Gründe zurück, die zumindest zum Teil durchaus berechtigt waren. Im Staatsgebiet von Großungarn war 1910 gerade einmal die Hälfte (ca. 48-50 %) der Bevölkerung Ungarn – die andere Hälfte waren Minderheiten: Slowaken, Ruthenen, Rumänen, Deutsche, Serben, Kroaten und noch einige mehr. Eigentlich waren die Ungarn in Ungarn bis 1920 nur die größte Minderheit oder allenfalls eine ganz knappe Mehrheit. Nachdem der Wiener Hof sich 1867 mit dem rebellisch-nationalen Ungarn auf eine Machtteilung in der Donaumonarchie geeinigt hatte – den sogenannten Ausgleich -, waren die Ungarn neben den Österreichern zum gleichberechtigten Reichsvolk erhoben worden. Sie waren gleichberechtigt an der Regierung beteiligt, genossen außerdem in ihrer Reichshälfte eine weitgehende Autonomie, die nur wenige Fragen – vor allem die Außenpolitik – der gemeinsamen Wiener Regierung überließ. Innerhalb Ungarns konnten die Ungarn ab 1867 recht frei entscheiden und nutzten dies auch aus, um die nicht-ungarischen Minderheiten nach Kräften zu diskriminieren oder zumindest zu magyarisieren. Es gab zwar auch aufklärerische, minderheitenfreundliche Bestrebungen in der ungarischen Politik, aber insgesamt war die Beziehung Ungarns zu seinen Minderheiten beim Kriegsausbruch 1914 vergiftet. Nicht umsonst nutzten diese die Chance des Weltkriegs, um sich aus Ungarn herauszulösen.
Diese Tatsachen vergessen viele Ungarn bis heute gerne oder erwähnen sie zumindest nicht. Gleichwohl verloren die Ungarn mit Trianon nicht nur die nichtungarischen Bevölkerungen, sondern auch ein beträchtlicher Teil der ungarischen Bevölkerung fand sich auf einmal außerhalb der neuen ungarischen Grenzen wieder. Besonders betraf das die Ungarn in der Slowakei und in Transsilvanien (deutsch: Siebenbürgen), das an Rumänien fiel. Heute leben ungefähr 1,6 Millionen Ungarn in Rumänien und 600.000 in der Slowakei, außerdem noch etwa 160.000 in der Ukraine. Bei einer (heutigen) Bevölkerung des neuen Kleinungarns von 10 Millionen macht das verhältnismäßig ein beachtliches Verhältnis von Auslands- zu Inlandsungarn aus. Dabei half es für die Akzeptanz des Vertrags wenig, dass die neue Grenzziehung zur Slowakei und zu Rumänien nicht entlang der Bevölkerungs- oder Sprachgrenze entlang lief, sondern stets zu Ungunsten Ungarns. Häufig geschah dies aus strategischen Gründen. So orientiert sich die ungarisch-rumänische Grenze nicht unwesentlich an einer wichtigen Bahnlinie, die nach dem Willen der Weltkriegsgewinner zu Rumänien kommen sollte.
Dass in Ungarn auch in Zeiten der EU die Nostalgie zu Großungarn anhält, mutet auf den ersten Blick irritierend, vielleicht sogar gefährlich an. In der Tat gibt es in der ungarischen Rechten bis heute Revisionisten, die recht offen eine Wiederherstellung der alten Grenzen fordern. Doch sie sind eine kleine Minderheit. Der Ungar, der sich heute eine Karte von Großungarn ins Wohnzimmer hängt – und davon gibt es viele -, weiß ganz überwiegend, dass ein Zurück zu den alten Grenzen fast neun Jahrzehnte nach Trianon nicht mehr möglich ist.
Die Karte von Großungarn ist vielmehr die Erinnerung an zwei Dinge: Zum einen an die Tatsache, dass die ungarische Nation größer ist als der ungarische Staat – eine Konsensposition, die bis heute auch von fast allen ungarischen Politikern vertreten wird und häufig zu Spannungen mit Bratislava oder Bukarest sorgt, denn die ungarische Regierung hat seit 1990 auch immer die Position vertreten, dass sie die Interessen der Auslandsungarn mitvertritt.
Zum zweiten erinnert das Diktat von Trianon die Ungarn an die Ungerechtigkeit, die ihnen ihrer Meinung nach widerfahren ist. Das ist die Selbstwahrnehmung der Ungarn, nicht nur der ungarischen Rechten: Die Geschichte habe ihr Volk ungerecht behandelt, in neuerer Zeit insbesondere mit Trianon 1920 und mit dem verlorenen Aufstand 1956. Die Ungarn erinnern sich an die glorreiche Zeit zwischen 1867 und 1914, die es so, wie man sie sich heute ausmalt, wahrscheinlich gar nicht gegeben hat.
Noch eine Schlussnotiz: Für uns Deutsche ist die Verwendung der Karte Großungarns vor allem deswegen so irritierend, weil kaum jemand in Deutschland auf die Idee käme, sich einen Aufkleber von Deutschland in den Grenzen von 1937 ans Auto zu kleben. (Ich wüsste noch nicht einmal, wo man einen derartigen Aufkleber bekommen könnte.) Doch dieser Vergleich ist den Ungarn gegenüber unfair, denn Deutschland hat die Ostgebiete unter ganz anderen Umständen verloren als Ungarn seine verlorenen Gebiete. Ungarn hat keinen Vernichtungskrieg in Osteuropa geführt und der halben Welt den totalen Krieg erklärt. Natürlich bedeutet das nicht, dass die Vertreibung der Deutschen aus dem heutigen Polen legitim war, aber sie muss eben historisch in diesem Kontext betrachtet werden. Dieser Kontext gilt aber nicht für die Verluste, die Ungarn durch Trianon erlitten hat.
Grafik: Wikipedia, Lizenz
veröffentlicht am 29. November 2008 um 12.08 Uhr
in Kategorie: In der Welt
ich zitier dich mal in meiner arbeit 😉
Comment by lunamea — 25. September 2009 @ 11:07
wow. Das hast du aba’ schön erzählt. 🙂
Ich denke, dass dieser Mentalität schon (/noch?) ein Teil der Tradition in Ungarn ist..
Das ist fast so, wie mit “für 150 Jahren nicht mit Bier in den Gläser klingen”, weil jemand das gesagt hat, dass nach der Hinrichtung der 13 Martyären (6.Okt. 1849) die österrichische Männer so gemacht haben.
Ich erinnere mich noch an die Geschichteunterricht, als wir über Trianon gelernt haben. Der Lehrer hat patetisch gesagt: “Heute sprechen wir über..also, ja.. über Trianon”
Und wir waren schon gespannt.
Hm. Das ist interessant, an dieser Thema mit fremden Augen zu sehen.
Danke für dein..Artikel.
🙂
Comment by doryzsu — 17. October 2009 @ 23:52
Der Beitrag verdient Anerkennung. Die Probleme werden angesprochen, ohne jedoch den heute weit verbreiteten “erhobenen Zeigefinger” aus Deutschland und Österreich, der Ungarn undifferenziert als nationalistisches Land darstellt.
Der Vergleich Trianons mit anderen – als ungerecht empfundenen – Friedensverträgen scheitert bereits an der Tatsache, dass kein Land derart große Gebietsverluste verkraften musste (einschließlich des damit verbundenen Verlustes an Rohstoffen und Industriekapazitäten). Ich meine, der Weg für Nationalismus und Unzufriedenheit, der Ungarn auch an die Seite Deutschlands im 2. Weltkrieg trieb, kann nicht “nur”, aber “auch” mit Trianon erklärt werden.
Der Punkt ist, dass es den Großmächten wohl gar nicht um eine Neuordnung der Ethnien ging, sondern darum, Sicherheitsbedürfnisse zu befriedigen. Ihr Hinweis auf die Bahnlinie sowie weitere Infrastrukturen ist insoweit vollauf korrekt. Der Friede bezweckte, über den Kopf Ungarns hinweg, die “Verbündeten der Zukunft” (die sog. “kleine Entente”) groß zu machen. Dass es nicht primär um “Kriegsschuld” ging, zeigt auch die Tatsache, dass selbst Österreich als Entfachr des 1. Weltkrieges Gebiete erhielt.
Was die heutigen Probleme der Geschichtsbewältigung betrifft: Zum einen war es in Ungarn während 45 Jahren Kommunismus untersagt, das Thema offen anzusprechen und aufzuarbeiten – da hatte es Deutschland leichter. Die Wunden brechen jetz, in wirtschaftlich schwierigen Lagen, auf.
Es gibt aber auch eine andere Seite. Die umliegenden Nationen gingen mit der ungarischen Minderheit nie wirklich zimperlich um. Gerade die Slowakei reagiert ausgesprochen empfindlich auf jede Tendenz, die auf eine Einheit der ungarischen kulturellen Nation gerichtet ist. Dies mag u.a. daran liegen, dass die Slowakei als sehr junges Land auf keine jahrhundertelange Geschichte der Stabilität zurückblickt, sondern selbst weiß, dass sich Grenzen ändern können. Der Staat wurde erst 1993 gegründet und entstand mit der Tschechoslowakei erst mit Trianon. Ich halte die Ängste Bratislavas zwar für unberechtigt eine Revision wird es im 21. Jh. nicht geben!), kann aber ein gewisses Maß an Empfindlichkeit verstehen. Was ich nicht verstehen kann, ist die Politik der Slowakei in Bezug auf die ungarische Minderheit: Diese wird regelmäßig von SNS-Politikern beschimpft, auch das Sprachengesetz ist bedauerlich.
Comment by Mike — 6. June 2010 @ 16:55
Danke….
Ist schön geschrieben…
(ungarische Historikerin, in Deutschland)
Comment by Walkris — 12. October 2010 @ 22:53
Ja, diese Artikel ist ganz objektiv, die Meinungen waren interessante Ansichten dazu.
Ich bin ein ungarischer Mann.
Ich halte diese Friedens”vertrag” für eine wirklich ungerechte Entscheidung der ehemalige Großmachten, die in dem ersten Weltkrieg gesiegt haben. Ungarn war – wie es die Artikel auch schreibt – nicht ganz unabhängig damals: die Äußerpolitik, die Kriegspolitik und die Finanzpolitik für diese Gebiete waren von Austria entscheidet und geführt worden. Die Entscheidung in dem Grand Trianon Palast war ein Kreuztode für die unschuldige Ungarn.”
Comment by Dr Provaznik Balázs — 4. July 2011 @ 22:22
Der Vertrag von Trianon ist für mich ein Verbrechen an dem Ungarischen Volk. Es offenbart die Ignoranz der “Sieger” über die “Besiegten”. Es ist eben nicht weit her mit der Freiheitlichen völkerrechtlich verbrieften Mitbestimmung der Völker in Europa.
Wie sonst soll man erklären, dass es völlig in Ordnung ist über
3.000.000 Menschen von ihrem Mutterland abzutrennen???
In diesem Zusammenhang kann ich nur lächeln, wenn Europäer den Chinesen etwas über Menschenrechte erzählen wollen.
Die Europäer sollten erst einmal ihre eigenen Hausarbeiten erledigen, bevor sie den Zeigefinger gegen China erheben.
Comment by Aquiel — 23. July 2011 @ 07:52
Wir sind die Verlierer des ungarischen Volkes, der ungarischen Nation. Die Slowaken sagen ( die , die im Oberstübchen schlecht möbliert sind…) zu einem: skurveny madar… also …verhurter Ungar… und die Ungarn eben fragen uns ob wir … Tschesko… sind.
Eine Frechheit einen Ungarn, der eben slowakische Kennzeichen hat und nördlich der Donau geboren ist, einen Tschechen zu nennen.
Was nun Damen und Herren Politiker ? Seit beinahe 100 Jahren hat sich die ungarische Bevölkerung in der Slowakei fast halbiert. Es ist die Ohnmacht, nirgends eine Heimat zu haben. Man wird mit fremden Pass als Staatenloser geboren, ohne eigene Identität, ohne Zugehörigkeit und obwohl Respekt zu den Slowaken und anderen Völkern habe, bin ganz einfach ein Ungar, igen magyar vagyok. Leider sind da die Slowaken immer noch ein wenig nachtragend. Sie sollten die Geschichte nicht nur aus dem Blickwinkel sehen wo sie durch den Ungarn unterdrückt wurden, sondern als relativ junger Staat, junge Nation stolz auf sich sein, auf das was sie erreicht haben. Es gibt viele Nationen im Europa und jede Nation ist für etwas berühmt. Wenn San Marino in Italien, Lichtenstein im Länderdreieck und Schweiz, geschweige Kosovo so wunderbar existieren können, wobei Kosovo ist immer noch ein Brandherd, ist die ungarische Minderheit entstanden nach Trianon nur noch mit den Kurden vergleichbar. Obwohl zivilisierter, aber genauso tragisch. Die Stiefkinder der ungarischen Nation, zum Sterben zu Viele, zum Leben zu Wenige. Danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Comment by Stolz Iván — 14. October 2014 @ 23:53
idee, ungarn in trianon – okkupierten gebieten kostenlos zu helfen :von ungarischen staat z.B. alkohol (wodka schnapsetc.etc etc zigaretten zumpreis ohne sreuern und abgaben zu bekommen-dann spottbillig-dies könnte aber großen ärger mit nachbarstaaten geben ? so daß im notfall diese sachen in ungarn verbraucht werden müßten.–auch billig urlaub für trianon -ungarn in ungarn(erstattung von mehrwertsteuer und anderen abgaben)sicher ist noch mehr möglich.
Comment by klaus zylla — 28. November 2014 @ 21:47