Helmut Kohl: Die Gnade der frühen Geburt

Helmut Kohl wird heute 80. In der FAZ schreibt Georg Paul Hefty einen Gratulationsartikel, der Kohls Biographie nachzeichnet. Schon im ersten Absatz wird die Marschrichtung klar:

Seine Bilanz am 80. Geburtstag ist glänzend, aber nicht makellos. Der Glanz wird in den Schulbüchern stehen, der Makel, über den sich die Mediengesellschaft empörte, wird vergessen werden.

Das mag ja sein. Neben den Schulbüchern gibt es allerdings noch die geschichtswissenschaftliche Literatur, und bislang hatte ich doch angenommen, dass die FAZ sich eher an zweiter orientiert. Aber in der Sache ist es natürlich unbestritten: Kohl ist einer der erfolgreichsten Kanzler der Bundesrepublik. Trotzdem wäre es besser gewesen, wenn Hefty die hagiographischen Züge seiner Kohl-Ikone in Artikelform etwas weniger herausgestellt hätte. Statt vielen Beispielen nur eines. Über den berühmt-berüchtigten Vergleich Gorbatschow-Goebbels etwa schreibt Hefty:

Als im Kreml ein etwa gleichaltriger Generalsekretär die Macht übernahm und Kohl damit rechnete, dass die Koexistenz der beiden lange dauern würde, erklärte er ihn mit einem groben Vergleich zum Propagandisten. Michail Gorbatschow war wütend, aber er hatte wohl verstanden, dass in Bonn einer regierte, der sich nicht mehr vor den Sowjetführern fürchtete. Obwohl sich Kohl wegen der breiten Empörung – diese entsprang der Neigung zum Wohlverhalten – von seiner Aussage distanzierte, wusste nun der Mann im Kreml, dass der Kanzler nicht mit Schlagworten zu beeindrucken war.

Das ist einfach grob verfälschend. Zum einen unterschlägt Hefty den Hauptinhalt des Kohl-Zitates – den Vergleich mit Goebbels. Zum zweiten unterstellt Hefty Kohl selbst bei dessen Fehltritten noch Absicht, Weitsicht und Intelligenz. Doch gerade in diesem Fall ist es ganz einfach. Man muss nur mal nachsehen, was Kohl selbst später dazu gesagt hat:

Das war eine Dummheit, eine kapitale Dummheit. […] Es hat mir sehr geschadet. Ich habe mich dafür auch später bei Gorbatschow entschuldigt.

Damit ist die Sache klar. Hefty ist dem greisen Kohl gegenüber zu rücksichtsvoll. Ab einem gewissen Punkt schlägt Rücksichtnahme um in mangelnden Respekt, in ein Nicht-mehr-ganz-für-voll-Nehmen. Das hat ein europäischer Staatsmann vom Format eines Helmut Kohl nicht nötig.

Georg Paul Hefty: Patriot und Europäer. Zum 80. Geburtstag von Helmut Kohl. FAZ vom 03.04.2010, S. 10.
Interview mit Helmut Kohl, in: Heribert Schwan/Rolf Steininger: Die Bonner Republik 1949-1998, Berlin 2009, S. 302-356, hier S. 314 f.

veröffentlicht am 3. April 2010 um 14.58 Uhr
in Kategorie: In der Welt

2 Kommentare »

  1. Die Artikel jenes Redakteurs sind doch sowieso anstrengend regelmäßig ausgesprochen heftyge (haha) Unions-Lobhudeleien.

    Comment by Niels — 3. April 2010 @ 19:06

  2. Über Hefty könnte man noch einiges sagen, auch aus pol.wiss. Perspektive. Eigentlich müsste man zu jedem zweiten seiner Artikel einen Leserbrief schreiben. Aber: Seine Leitartikel sind auf S. 1 und werden von zehn- bis hundertmal sovielen Leuten wahrgenommen wie ein Leserbrief auf S. 7 unten links…

    Comment by SG — 3. April 2010 @ 19:28

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